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Auf Null

Ich habe schon länger das Bedürfnis, über mein Innenleben zu schreiben, doch fand keine Worte dafür. Wie sicherlich einige wissen, ist bei mir alles weg. Firma gekündigt – und mit diesem Loslassen ist alles, was an Erwartung geknüpft war, und alles, was einen Zweck erfüllte oder erfüllen musste, mitgestorben.

 

Wer bin ich ohne Rollen?

Stell dir vor, du hast keine Aufträge mehr, niemand will mehr etwas von dir. Keine Kund:innen, keine Community. Stell dir vor, du bist nicht mehr XY. Keine Begleiterin, Inspiratorin, Grafikerin, Selbständige – you name it.


Es fühlte sich so an, als wäre meine Berufung gegangen, sich aufgelöst, weil sie immer mit „zu etwas machen“ verbunden war.
Ein Märchen, um zu…
Eine Botschaft, um zu…
Um Leichtigkeit einzuladen, um zu heilen, um dich zu entfalten, aufzublühen, lebendig zu sein, ausgeglichen, in deiner Kraft.

 

Dann kam die grosse Allergie. Ein Ekel, ein Zusammenziehen vor – ich nenne es jetzt mal – Coaching-Menschen und Businesses.
Alles, was mit etwas erreichen, erfüllen, verändern, auflösen, heilen, transformieren, aber vor allem optimieren zu tun hatte, kam mir das Kotzen.
Ja, so richtig aggressives Ich-scheiss-die-Wand-an-Kotzen.

 

Wut, Worte, Widerstand

Diese Wut musste raus, und ich schrieb sehr viel. Ich schrieb vor allem rohe Texte und Gedichte ohne Purpose.
Mein Ausdruck hatte plötzlich keine Mission mehr.
Es waren plötzlich nicht mehr Botschaften, um sich besser zu fühlen, mehr Mut zu haben oder irgendetwas zu haben.
Sie waren einfach da – die Worte, die Zeilen. Punkt.

 

Und das war ein sehr befreiendes Gefühl.
Ja, ich kann sagen: Ich habe mich noch nie im Leben so frei gefühlt.


Doch dann kamen die Trigger – und ja, es waren Trigger, nicht nur Reize.
Tief unverarbeitetes Leistungsdruck-Trauma, das mir einflüsterte, dass ich nichts wert bin, ohne etwas zu erfüllen.
„Fabienne, kannst du…?“
„Fabienne, machst du mir noch…?“
Ich musste mich teilweise drei Tage erholen nach nur einer solchen Nachricht.
In mir kam der Zorn hoch – von all den nicht ausgesprochenen Grenzen, von all den übergangenen und überhörten Bedürfnissen.
Die Wut quoll hoch – von meinem Missbrauchtwerden.
Ja, nicht nur ausgenutzt und übergangen – missbraucht.
Meine Gutmütigkeit wurde degradiert.

 

Doch ich nehme es niemandem übel. Niemand hat etwas falsch gemacht – nur ich, weil ich nie meine Grenzen kommuniziert, nicht oft genug Stopp gesagt und meine Bedürfnisse überhaupt wahrgenommen habe.
Immer musste es weitergehen, weil ich zu wenig Geld verdiente.
Immer musste ich in meiner Pause wieder aufstehen und weitermachen.
Vermeintlich.
Denn musste ich das wirklich? Nein. Im Gegenteil:
Eigentlich musste ich entspannen und sein lassen.
Aber mein Kopf erlaubte es mir nicht.
Meine Gedanken, meine Prägung, sogar mein Körper erlaubten es mir nicht, einfach nichts zu leisten und nichts zu erfüllen.

 

Die grösste Erschöpfung meines Lebens

Dann kam die grösste Erschöpfung meines Lebens.
Jedes Feedback, jedes Zurückschreiben, Rechtfertigen oder Erklären war zu viel für mich.
Alle Menschen konnten mal fuck off. Sorry not sorry.
Vor allem die, die auf die Märchenfee und die weiche, sanfte Fabienne warteten.
Die kommt dann schon wieder? – Ins Knie.

 

Puh. Das kam unerwartet. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.
Vielleicht gehörst du zu den wenigen Menschen, die mein ganzes Sein immer gesehen und geliebt haben.
Fabienne, roh, in ihrer Vielfalt, alle Gefühle erlaubt.
Und die, die geblieben sind – mir den Raum lassen, ganz und wahrhaftig zu sein: Danke. Ich liebe euch.

 

Und dann kam ADHS. Und endlich Verstehen.

Was soll ich sagen:

Alles musste so geschehen. Beruf weg, Berufung to be found, Rollen weg, Purpose weg – damit ich zu meiner ADHS-Diagnose geführt werde.
Denn erst durch die Arbeitssuche landete ich in einem ADHS-Kurs – und durch diesen Kurs kam ich zur Diagnose, die mehrere Wochen, wenn nicht Monate dauerte.

 

Und es kam noch mehr Freiheit in mein Leben. Endlich verstand ich mich wirklich, bis in die tiefste Ebene. Wie mein Hirn tickt, warum ich so viel Ängste habe, Leistungsdruck, verbiegen, Rollen spielen - maskieren. Alles machte Sinn und dann ging es rasant auf Null. 

 

Ich hatte ja nichts mehr und so durfte ich mich auch noch grad entkleiden. Das erste mal nackt, so richtig. Und ich konnte wunderbar damit umgehen. Ich rede direkter, biege nichts mehr gerade. Nehme mir den Raum. Bleibe drin, ohne mich zurückzunehmen oder wieder kleiner zu machen.
Ich versuche nicht mehr, positiv zu denken oder die Leichtigkeit einzuladen.
Ich bin. Punkt.

 

DAS ist Freiheit. DAS ist Wahrhaftigkeit.

 

Und jetzt? No effing clue!
Mein neuer Beruf – am Finden.
Meine Berufung – am Neuformen.
Meine Rollen im Leben – gibt es das überhaupt?

 

Ich erhalte keine Downloads, wie es weitergeht.
Ich hab kein Orakel, das mir sagt, wie es gefühlt kommt.
Ich schaue und lese auch nichts dergleichen.
Ich bin nackt und bin gespannt, wer oder was mir neue Kleidung anzieht – und welche Farben diese haben.

 

Ich bin gespannt – manchmal ungeduldig, manchmal lost, schwermütig und einsam.
Ich bin gespannt – manchmal befreit, entspannt und ruhend.

 

Ich lache weniger – aber fühle mehr.
Ich möchte wieder mehr lachen UND viel fühlen.

 

Und ich weiss, dass ich genau den Menschen begegnen werde und den Beruf leben, der mir mein Lachen zurückschenkt.
Doch diesmal ist es nicht aufgesetzt.
Diesmal ist es aus dem ganzen Herzen.
Befreit, roh und wahrhaftig.

 

Weil ich nicht mehr licht sein muss, um wertvoll zu sein – sondern weil es mein Kern ist, der viel zu lange verdeckt und überschattet war.

 

Vor zehn Jahren habe ich mich gefragt: Wer bin ich?
Und habe mich auf Schatzsuche gefunden.
Heute frage ich erneut: Wer bin ich?
Und die Antwort ist nicht mehr ein Ziel –
sondern ein Raum, in dem ich bin.

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Kommentare: 1
  • #1

    Chris (Sonntag, 06 Juli 2025 21:32)

    Danke dir für deinen ehrlichen, tiefen Text. Ich kenne mich in so vielem wieder, auch wenn es bei mir gerade um andere Themen geht… Es ist wie eine Neuerfindung. Fühl dich gedrückt �