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Ich wollte nur, dass jemand stehen bleibt und wirklich zuhört

Es gibt diesen seltsamen Moment im Leben, wenn dir jemand eine Diagnose in die Hand legt und du plötzlich dein ganzes Leben neu sehen musst.

Für mich war es ADHS.

 

Zuerst kam Erleichterung, Freude sogar. Endlich Antworten. Endlich ein Name für all die losen Puzzleteile:

Die Müdigkeit nach jedem sozialen Kontakt, das endlose Wiederabspielen von Streitgesprächen, das Bedürfnis früher, einfach auf der Schultoilette zu verschwinden, nur um Ruhe zu haben.

Endlich wusste ich, warum ich mich ein Leben lang so anders fühlte.

Reaktionen, die mich nicht erreichten

Und dann war es plötzlich still im Außen – zumindest hat es sich so angefühlt. Es gab schon Reaktionen, wie ein „Ah, okay“, vielleicht auch ein paar Nachfragen, aber mir fehlte dieses Gefühl, dass jemand wirklich stehen bleibt, zuhört und fragt: „Wie geht es dir mit der Diagnose?“ 

 

Vielleicht ist diese Frage gefallen und ich habe sie nicht abgespeichert, weil sie nicht so klang, wie mein Herz es brauchte. Vielleicht wusste ich damals selbst noch nicht, wie groß diese Frage für mich ist.

 

Ich habe lange überlegt, warum es sich trotzdem wie Stille anfühlte.

Manche verstehen den emotionalen Umfang nicht. Für mich ist es ein Erdbeben, für sie eine Randnotiz.

Andere haben Angst vor der Antwort, weil sie spüren, dass ich nicht mit „Gut, danke“ antworten werde.

Manche denken, die Diagnose ist das Ende der Geschichte – für mich ist es der Anfang einer langen Reise.

Und vielleicht schützt sich mancher selbst davor, tiefer hinzuhören, weil das bedeuten würde, eigene blinde Flecken zu sehen.

Alles ist plötzlich Teil des Puzzles

Manchmal fühlt es sich an, als hätte ich eine neue Brille bekommen – und plötzlich ist alles ADHS.

Es ist aufregend. Alles macht Sinn. Ich entdecke Antworten auf Fragen, die ich mein Leben lang getragen habe. Ich lese, höre, schaue – und jeder neue Gedanke ist ein Puzzleteil, das endlich passt.

Ich könnte tagelang im Hyperfokus verschwinden, so gierig bin ich nach diesem Wissen.

 

Und gleichzeitig… ist es, als wäre ich nirgends mehr anders. Alles filtere ich durch diese neue Linse. Jedes Gefühl, jede Erinnerung, jede Handlung – ADHS.

Es ist schön, weil ich mich endlich verstehe. Und es ist erdrückend, weil es keinen Ort gibt, an dem ich das alles ablegen und in Ruhe sortieren kann.

 

Ich habe oft das Gefühl, niemand will wirklich zuhören. Nicht, weil sie mich nicht mögen, sondern weil sie diese Welt nicht kennen. Sie sehen nur die Oberfläche – nicht den Ozean darunter.

Für mich ist es kein Widerspruch: die Faszination und die Erschöpfung. Sie gehören zusammen. Sie sind Teil derselben Welle, die mich trägt und manchmal überrollt.

Ohne Maske leben lernen

Nach der Euphorie kam etwas anderes:

Das Gefühl, als hätte jemand alle Masken von meinem Gesicht gerissen – und ich müsste jetzt lernen, ohne sie zu leben.

Ich war immer die Optimistische. Die Inspiratorin. Die, die aus jedem Stolperstein eine Botschaft für andere formt. Ich habe damit Menschen erreicht – aber dabei mich selbst oft verloren.

Maskieren heißt nicht, dass das Leben nicht echt war. Es heißt, dass ich gelernt habe, mich so zu zeigen, wie andere mich brauchen.

 

Und als ich begann, ungeschönt zu sprechen – wütend, roh, traurig – wurde mein Umfeld kleiner. Viele konnten die ganze Version von mir nicht aushalten. Das tat weh.

Noch schmerzhafter war zu merken: Selbst die, die blieben, fragten oft trotzdem nicht, wie es mir wirklich geht.

 

Ich fand Trost in den Stimmen anderer spätdiagnostizierter Frauen. In Sätzen wie:

„Du bist nicht zu emotional – du hast eine Tiefe, die wenige verstehen.“

„Es ist normal, dass dein Nervensystem Tage braucht, um sich von Reizen zu erholen.“

„Du bist nicht schwach, wenn du Abstand brauchst.“

 

Ich wünschte, jemand hätte mir das früher gesagt.

Ich wünschte, ich hätte früher verstanden, dass meine Über-Empathie, meine Sensibilität und meine Impulsivität nicht Fehler sind – sondern Teile von mir, die einfach ein anderes Tempo brauchen.

Mit einer leeren Karte in der Hand

Jetzt stehe ich hier mit 36. Selbstständigkeit beendet. Berufung – unklar. Leichtigkeit? Irgendwo unter den Schichten. Ich habe das Gefühl, jemand drückt mir eine Karte in die Hand und sagt: „Das ist dein neues Leben.“ Aber sie ist leer.

 

Ich weiß nicht, was kommt.

Ich weiß nur: Ich will nicht mehr nur die Version von mir zeigen, die leicht zu lieben ist. Ich will wahrhaftig gesehen werden – mit allem, was ich bin.

ADHS gehört jetzt zu meinem Vokabular.

Und ich habe Nachholbedarf, darüber zu sprechen. Vielleicht in Podcasts, vielleicht in einer Community. Vielleicht einfach hier, mit dir, die das gerade liest.


Mein Leben ist gleichzeitig verdammt anstrengend und wunderschön.

Ich bin nicht zu viel.

Ich bin genau so groß wie der Raum, den ich mir jetzt zurückhole.

 

Und vielleicht ist das die Frage, die bleibt:

Wenn wir einander wirklich zuhören – nicht nur den Worten, sondern dem, was darunter liegt – was würden wir dann hören?

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