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Willkommen in meinem Kopf – Ein Brief über das Leben mit ADHS

Wenn dein Gehirn keine Tür hat – ein ehrlicher Blick auf Neurodivergenz

Ich schreibe diesen Text für all jene, die ADHS wirklich verstehen möchten, für jene, die mich oft nicht verstehen. Für diejenigen, die überrascht reagieren, wenn sie hören, dass ich ADHS habe. Und für solche, die sagen:

„Was? Du doch nicht. Du bist doch so ruhig, so strukturiert und intelligent.“

 

Und für alle, die bis heute denken, ADHS sei einfach nur Zappeligkeit, Konzentrationsmangel und Chaos im Alltag.

 

Ich schreibe, weil ich mir wünsche, gesehen zu werden – wirklich gesehen.

Nicht durch das, was ich funktional hinbekomme, sondern durch das, was in mir passiert, während ich versuche, klarzukommen.

 

Ich schreibe, damit du es greifen kannst.

Nicht als Diagnose. Sondern als inneres Erleben.

Was ADHS ist und was es nicht ist

ADHS ist kein Kind, das zappelig auf einem Stuhl herumrutscht. Es ist kein fauler Teenager, der zu viel TikTok schaut. Es ist auch kein „Konzentrationsproblem“, das man mit Disziplin lösen kann.

 

ADHS ist ein Nervensystem ohne Reizfilter.

Ein Gehirn, das offen ist wie ein Marktplatz, auf dem alle durcheinanderreden. Alles wird gleichzeitig wahrgenommen. Geräusche. Bewegungen. Gefühle. Gedanken. Erinnerungen.

 

Während andere sich auf eine Sache konzentrieren können, muss ich mich auf alles gleichzeitig konzentrieren. Und irgendwann ist mein System erschöpft. Nicht müde im klassischen Sinne – sondern durchgebrannt, leer, wie ausgeknipst.

Greifbare Bilder für ein unsichtbares Erleben

ADHS bedeutet: Mein Gehirn hat keinen Reizfilter.
Stell dir vor, dein Gehirn hat Fenster und ich habe keines zugemacht.

 

Du hörst den Vogel draußen – ich höre den Vogel, den Kühlschrank, die Stimme in meinem Kopf, den Tick meiner Uhr, den Müllwagen, der in zwei Straßen weiter rückwärts fährt.
Und gleichzeitig denke ich daran, ob ich die Herdplatte ausgemacht habe, was ich heute noch posten wollte und warum ich in der dritten Klasse das eine Matheblatt verloren habe.

 

ADHS ist, wenn der Fernseher auf hundert Kanälen gleichzeitig läuft – und du versuchst, einen klaren Satz zu hören.

 

ADHS ist, wenn du mitten im Satz vergisst, worüber du redest.
Weil dein Hirn einen Umweg genommen hat – ohne dich zu fragen.

 

ADHS ist nicht „nicht konzentrieren können“.
Es ist: sich auf alles gleichzeitig konzentrieren müssen.

Fabienne Kreativkopf mit ADHS

Ein kurzer Abstecher – für die Kleinen (und alle, die einfach verstehen wollen)

Stell dir vor, mein Kopf ist ein Zauberschloss mit hundert Türen.

 

In jedem Zimmer passiert etwas anderes. In einem schaukeln Gedanken auf fliegenden Teppichen. In einem anderen streiten sich zwei Gefühle um den Thron. Durch die Gänge huschen flackernde Erinnerungen, die sich verstecken, sobald man hinschaut. Und im Dachzimmer sitzt ein kleiner Kobold, der dauernd neue Ideen aus dem Fenster ruft.

 

Alles ist lebendig. Alles ist gleichzeitig. Alles will meine Aufmerksamkeit.

 

Es ist magisch. Und manchmal richtig schön.
Ich finde dort Schatztruhen voller Fantasie. Zauberwesen, die mir Geschichten zuflüstern. Räume, in denen mein Herz tanzt.

 

Aber manchmal ist es auch einfach zu viel.
Ich will mich nur auf eine Sache konzentrieren und schon poltern drei neue Türen auf. Ich will zur Ruhe kommen, aber die Gedankenflöhe springen weiter.

 

Und weißt du was?

Wenn ich das einem Kind so erzähle, sagt es meist nur:
„Aha. Cool.“
Und geht dann einfach weiter spielen.

 

Ohne zu urteilen.
Einfach so.

 


Ich funktioniere – aber ich kämpfe

Und während mein Zauberschloss innen tobt und leuchtet, stehe ich außen oft ganz still da.
Ich lächle, ich funktioniere, ich mach mit.

 

Aber was niemand sieht:
Wie viel Kraft es kostet, dieses Schloss zu tragen. Jeden Tag.
Ohne, dass es jemand merkt.

 

Ich funktioniere. Ich bin kreativ. Ich kann mich gut ausdrücken. Ich wirke strukturiert. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit.

 

Ich habe gelernt zu funktionieren, lange bevor ich verstanden habe, was in mir anders ist. Ich war gut darin. So gut, dass niemand etwas gemerkt hat. Nicht mal ich selbst.

 

Aber funktionieren ist nicht dasselbe wie leben.

Und ganz langsam lerne ich: Ich darf auch einfach sein.

Ungeordnet. Ungenügend. Unperfekt. Echt.

 

Und trotzdem frage ich mich manchmal…

 

Warum ist es so schwer, dass du mir glaubst?
Warum denkst du, ich mache mich klein, wenn ich dir von meinem Innenleben erzähle?
Warum ist alles, was ich teile, für dich eine Ausrede?

 

Ich will dir doch nur zeigen, wie es in mir aussieht.
Nicht, weil ich nicht klarkomme – sondern weil ich mich mitteilen will.
Weil ich Nähe will. Kein Drama. Keine Debatte.

 

Und manchmal… ist da eine Einsamkeit, die sich schwer erklären lässt.
Nicht, weil niemand da wäre – sondern weil mich niemand ganz erreicht.

 

Ich bin da, ich rede mit, ich lache. Und gleichzeitig fühle ich mich wie durch eine Glasscheibe getrennt.

 

Ich nehme so viel wahr. Und doch komme ich mir manchmal vor wie ein Wesen von einem anderen Planeten, das die Sprache gelernt hat – aber die Welt dahinter nicht versteht.

 

Es ist nicht Einsamkeit im klassischen Sinn.
Es ist das Gefühl, immer ein bisschen daneben zu stehen.
Nicht falsch. Aber fremd.

 

Und diese Fremdheit – sie ist nicht laut. Sie ist leise.
Und sie begleitet mich. Auch dann, wenn alles „normal“ scheint.

Ein Tag in meinem Kopf

Manchmal vergehen Wochen wie Stunden. Und manchmal ist eine Stunde wie ein ganzer Tag.

Ich denke oft an Menschen, die mir wichtig sind. Ich denke: Ich sollte mich melden. Ich will mich melden.

Und dann ist ein Jahr vergangen.

Nicht aus Desinteresse.

Sondern weil die Zeit mir durch die Finger rinnt wie Sand.

 

Wenn mich etwas begeistert, verschwindet der Rest der Welt.

Ich vergesse zu essen, zu antworten, zu schlafen. Ich will nur da drin bleiben.

Und wenn ich rausmuss – fühlt es sich an wie aufwachen. Mit Widerstand.

 

Aber wehe, ich muss etwas tun, das mich langweilt.

Ich will ja. Aber mein Kopf weicht aus.

Plötzlich ist alles andere interessanter.

 

Ich sehne mich oft nach Rückmeldung:

Du hast es gut gemacht. Es ist okay so.

Und wenn Kritik kommt – trifft sie. Auch heute noch.

Weil ich immer noch alles richtig machen will. Alles perfekt.

Und dann kommt dieses Echo.

Wenn ich eine Serie schaue oder einen Film, tauche ich tief ein.

Ich lache, weine, liebe mit. Ich bin ganz lebendig. Ganz durchlässig.

Und wenn der Abspann kommt, bleibt eine Schwere.

Fast wie eine Depression. Eine Art Nebel.

 

Ich habe mich oft gefragt, warum das so ist.

Warum alles so intensiv ankommt – selbst wenn es „nur“ eine Geschichte war.

 

Heute weiß ich: Es ist ein Echo.

Ein Dopamin-Sturz.

Ein Aufprall gegen den grauen Alltag.

Ein kleiner Schmerz, da wo vorher die ganze Aufregung war.

Mein Fensterplatz im Leben

Ich habe viele Erinnerungen verloren. Ganze Jahre.

Aber ich erinnere mich an den Schattenwurf eines Nachmittags.

An Farben. An Stimmen. An ein Gefühl.

 

Als Teenager hatte ich den sprichwörtlichen Fensterplatz.

Ich war da – aber mein Kopf war woanders.

Meine Fantasie war mein Zuhause. Mein Rückzugsort.

Später wurde daraus: "Du hast zu viel Fantasie."

 

Aber genau das ist meine Gabe.

Ich sehe, was andere übersehen. Ich fühle, wo andere filtern.

Ich erzähle Geschichten. Ich trage Innenleben nach außen.

 

Und das ist nichts, wofür ich mich schämen muss.

Es ist das, was mich ausmacht.

Wenn du mich siehst – dann ganz

Ich bewege mich oft in Zwischenräumen.

In Momenten, die nicht laut sind. Nicht logisch erklärbar.

Dort, wo keine Rolle gespielt werden muss.

Wo das Herz zuerst spricht.

Wo nichts schön gesagt werden muss – sondern einfach wahr ist.

 

Das ist Magie für mich. Kein Glitzer.

Sondern ein Moment, der dich trifft – ohne zu fragen, ob du bereit bist.

 

Und während du vielleicht denkst, ich sei ruhig, geordnet, gesammelt – laufe ich innerlich durch diesen Zwischenraum,
während mein Körper still dasteht.

 

Ich zapple nicht sichtbar rum.
Ich drücke seit einer Stunde auf einen kleinen Klick-Knopf in meiner Hosentasche.
Mein Daumen spricht Unruhe. Der Rest von mir funktioniert.

 

Und vielleicht wünsche ich mir am meisten, einfach irgendwohin gehören zu dürfen. Ohne Maske. Ohne Erklärung.

 

Ich wünsche mir Räume, in denen ich nicht alles erklären muss.

Räume, in denen meine Art zu denken nicht als Schwäche, sondern als andere Tiefe gesehen wird.

 

Und ich weiß: Diese Räume gibt es.
Vielleicht noch selten. Aber sie wachsen.
Und jeder Text wie dieser ist ein kleiner Versuch, einen solchen Raum zu öffnen.

Und jetzt frage ich dich:

Hast du dich irgendwo wiedererkannt?

Hast du vielleicht jemanden in deinem Leben, den du mit anderen Augen sehen möchtest?

Hast du Fragen? Dann schreib mir gern.

Ich freu mich, wenn aus diesem Text ein Gespräch wird.

 

Ich habe meine ADHS-Diagnose mit 36 bekommen.

Und vielleicht ist genau jetzt der richtige Zeitpunkt, dich selbst neu zu entdecken.

Oder jemanden, den du liebst.

 

Du bist richtig.

Du bist wichtig.

Und du bist nicht allein.

 

Fabienne

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