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Die Geschichte einer Frau, die gegen den Strom schwamm

 

Es war einmal ein schüchternes Mädchen auf dem Weg ins Wunderland. Sie wusste, dass diese Reise lange wird, jedoch wusste sie nicht wie vielen Aufgaben, Hinternissen, aber auch Wundern sie begegnen wird.

 

Zuerst ging der Weg geradeaus. Sie folgte den Anweisungen der Karten und Menschen, die scheinbar bestens wussten wo es lang geht. Als sie seit Tagen geradeaus ging, wurde ihr langweilig. Sie spürte einen Schmerz in der Brust und dachte, das könne es doch nicht gewesen sein. Was wohl passiert, wenn sie für einmal eine andere Richtung einschlägt?

 

Das Mädchen beschloss den Weg auf dem sie sich befand zurück zu laufen, um eine andere Richtung zu nehmen. Auf dem Weg zurück begegnete sie vielen Menschen in Anzügen, die mit dem Finger auf sie zeigten. „Du läufst in die falsche Richtung“, sagen sie. „Da gehts lang.“ Das Mädchen fühlt sich gedrängt, läuft eine Weile wieder mit den Menschen mit, doch der Schmerz in ihr wird stärker und sie kann nicht mehr atmen. „Warum ist dies der richtige Weg? Warum ist der andere falsch?“ fragt sie einen älteren Herrn im Anzug. „Das ist einfach so, war schon immer so, hat man dir nichts beigebracht?“ fragt der Mann entsetzt. Das Mädchen schämt sich und denkt sie sei dumm. Also läuft sie mit der Masse mit, geradeaus und versucht zu atmen.

 

Als die Pilger nach Stunden an eine Kreuzung kommen, nehmen alle ihre Karte aus dem Aktenkoffer und laufen nach links. Nur ein dünner schlaksiger Mann bleibt stehen und schaut sie an. „Wo gehst du durch?“ fragt er das Mädchen. „Ich halte dieses geradeaus laufen nicht mehr aus, ich gehe rechts, da geht es hoch.“ „Geht mir auch so, ich komme mit.“

 

Da wandern die beiden zusammen den Weg hoch und stolpern zum ersten Mal über Steine. „Huch, das ist ja gefährlich hier“, ruft das Mädchen. „Ja das kenn ich so auch nicht“, antwortet der Mann. Das Mädchen betrachtet den Mann. Er ist gross, dünn und hat lange Arme, die beim Gehen hin und her baumeln. Als sie sich heimlich amüsiert, fällt er zu Boden und reisst sich das Knie auf. Er blutet stark und das Mädchen versucht ihm zu helfen. „Wären wir doch auf der anderen Route geblieben“, weint der Mann. Das Mädchen reisst etwas Stoff aus ihrem Kleid und bindet es dem Mann ums Knie. „Das wird schon wieder, alles gut“, sagt sie liebevoll. Der Mann verabschiedet sich von dem Mädchen und beschliesst zurück zu den anderen zu gehen. „Ich habe Angst, schreckliche Angst vor diesem steinigen Weg“, sagt er und verschwindet im Nebel.

 

Das Mädchen ist traurig, sie fand den Mann lustig und freute sich über Gesellschaft, doch zurück zu den Anzugmenschen wollte sie auf keinen Fall. So beschloss sie alleine weiter zu gehen.

 

Sie wanderte weiter hoch, rutschte paar Mal aus, fiel zu Boden, doch stand wieder auf, als sie in ein Dorf kam. In dem Dorf hatte es viele Kinder, vor allem Mädchen. Sie setzte sich zu einem Brunnen um Wasser zu trinken und beobachtete die Mädchen. Sie wollte zu ihnen gehen, doch war zu schüchtern. So wartete sie und traute ihren Augen nicht. Ein Mädchen das grösser war als die anderen, schupste das kleinste umher. „Schau mal wie hässlich du bist. Sau hässlich bist du“, schreit sie und die anderen Mädchen lachen. Das schüchterne Mädchen beobachtet das Geschehen eine Weile, doch fühlt sich hilflos, traurig und geht weiter.

 

Viele Monate vergehen und das Mädchen läuft ganz verschiedene Routen. Sie trifft immer wieder mal auf Erwachsene und auch Kinder die alleine wandern. Sie läuft eine Weile mit und hört sich deren Geschichten an. Oft trifft sie auf die Menschenmassen in Anzügen, die sie mitreissen, zwingen geradeaus zu gehen. Immer wieder ist sie verunsichert und geht mit, bis sie die Nase schliesslich so voll hat und weg rennt. Heulend, keuchend und verloren rennt sie ins Unbekannte und fällt. Sie fällt in einen tiefen dunklen Graben.

 

Tagelang liegt sie im Dunkeln und weint. Plötzlich schimmert ein Lichtlein in der Ferne und sie folgt ihm. Der Boden unter ihr ist weich und obwohl es dunkel ist fühlt sie sich geborgen. Da spricht das Lichtlein plötzlich sanft zu ihr: „Was suchst du meine Liebe?“ Das Mädchen erschrickt. „Das Wunderland. Ich weiss ich bin vom Weg abgekommen und das tut mir leid, jedoch mag ich nicht mehr nur geradeaus laufen.“ „Du bist nicht vom Weg abgekommen, du hast nur eine andere Richtung genommen. Eine etwas längere, dafür viel spannendere. Beim immer nur geradeaus laufen lernst du nichts. Du meine Liebe hast gelernt umzufallen, wieder aufzustehen und sogar gegen jeden Strom zu schwimmen. Sei stolz auf dich für den Mut und das Vertrauen Schritte ins Unbekannte zu wagen. Ich bin das Lichtlein das in dir brennt, ich bin immer da um dir in dunklen Stunden den Weg zu weisen. Bist du bereit für dein nächstes Abenteuer?“ Das Mädchen ist berührt und fühlt sich zum ersten Mal richtig. „Ja“, antwortet sie geschwind. „Folge mir, ich zeige dir den Ort an dem du dich Zuhause fühlst.“ Das Mädchen spaziert fröhlich dem Lichtlein nach. Als sie vor einem grossen Tor aus Glitzer und Wolken stehen sagt das Lichtlein: „Das ist der Zauberwald, auch hier wird es Hindernisse und traurige Stunden geben, jedoch wirst du darüber hinaus wachsen. Du wirst wachsen, viel lernen, aber vor allem dich geborgen, behütet und Zuhause fühlen. Ich bin immer da, ruf mich wenn du mich brauchst.“ Das Lichtlein verschwindet und das Mädchen läuft durch das Glitzertor.

 

Im Zauberwald findet das Mädchen viele Freunde. Tiere, Zauberwesen, Menschen und Bäume. So viele Geschichten die auf sie warten. Jeden Abend trifft sie sich mit ihren besten Freunden, die sie über die Jahre kennen gelernt hat. Einen weisen Zauberer, der ihr gezeigt hat wie man negative Gedanken loslässt. Einen Schatzsucher der oft auf weite Reisen geht, um viele tolle Zutaten für seine Zauberformeln zu sammeln. Elixiere erstellt und diese in einem kleinen Shop verkauft. Sein Lieblingsfläschchen hab ich schon, das ist einfach wundervoll.

 

Die junge Frau bleibt Jahre im Zauberwald, lernt die Sprache der Natur, der Farben und Formen. Lernt viele Helferlein kennen, aber vor allem lernt sie sich kennen. Sie ist inzwischen nicht mehr schüchtern, hilft Menschen und Tieren in Not und schreibt Geschichten. Geschichten von ihren Freunden, den Hindernissen und Wundern des Lebens.

 

Mit den Jahren sind viele Menschen in den Zauberwald gekommen. Alte, sehr alte und auch junge Frauen, Männer und Kinder. Jeden Abend sitzen sie zusammen und erzählen von ihrer Reise ins Wunderland. Besonders berührt hat sie die Geschichte von Manuela. Eine junge Frau, die ihrem Herzen folgte und so ihre Berufung fand. Sie ist eine Schatzlichterin, so nennt sie sie. Sie nimmt Menschen mit auf Reisen durchs Wunderland und zeigt ihnen ihre inneren Schätze. Sie sagt, dass jeder einen Schatz besitzt, gross und leuchtend und sich stetig füllend. Das ganze Leben ist eine Schatzsuche, sagt sie. Die Schatztruhe findet man, wenn man gegen den Strom schwimmt, dem Herzen folgt, egal was kommt. Die Schatztruhe wartet auf jeden von uns egal wie alt wir sind. Wir müssen nur lernen auf unser Herz zu hören, zu vertrauen, nach einem Fall wieder aufstehen und nicht stetig in Kreisen gehen.

So entschied ich mich auch eine Schatzlichterin zu sein. Geschichten aus aller Welt zu erzählen. Schatzfinder Geschichten. Mal sind sie bunt, mal etwas grau. Mal sind sie lustig, dann traurig, doch je mehr Schatztruhen ich finde, desto heller scheint mein Lichtlein. Das Lichtlein das einst im Dunkeln auf mich wartete. Ich wünschte ich könnte euch alle Geschichten erzählen, doch dafür reicht ein Leben nicht.

 

Die Frau schrieb und erzählte Geschichten. Geschichten aus dem Zauberwald, aus den Zaubermeeren und Wunderland. Das Wunderland fand sie schliesslich viele Jahre später und musste lachen. Als Mädchen dachte sie das Wunderland sei ein Ort auf der Karte, den man nur mit genauen Routen findet. Wie falsch sie lag. Das Wunderland liegt überall. Es ist da wo wir Zuhause sind. In uns, bei uns, im Jetzt. Das Wunderland mit unseren Lernaufgaben, Hindernissen und Geschenken. Das Land der Schatztruhen, die auf uns warten um uns zu beschenken. Truhen voller Fülle, die je mehr wir ihr entnehmen voller werden.

 

Und so lebte und liebte sie, erstellte ihre eigenen Zauberformeln, zeigte neuen Schatzsuchern ihre Geheimzutaten. Wann immer sie einem Hindernis begegnete, krank oder verloren war, wusste sie, dass das am Ende nur ein Geschenk war um neues zu lernen. Wissen, dass man erfahren muss um es zu verstehen. Erkenntnis die man fühlen muss um weiter zu geben.

 

Das Leben ist eine stetige Schatzsuche. Wenn wir mal vom Weg abkommen oder der Masse folgen, finden wir doch immer zurück nach Hause. Je mehr Routen wir nehmen, desto besser wissen wir welche wir nicht mehr gehen möchten. Je dunkler ein Loch ist in das wir fallen, je heller kann das Licht leuchten, das uns in den Zauberwald führt. Je mehr wir unsere Zauberformeln miteinander teilen, desto mehr Menschen finden ihre Schatztruhe. Je mehr Menschen ihren Schatz finden, desto leichter wird der Weg. Der Weg zusammen, gemeinsam Hand in Hand nach Hause. Nach Hause wo es warm und gemütlich ist, wir frei sind und selbstbestimmt leben können. Zuhause wo die liebsten wohnen, immer zu jeder Zeit. Zuhause wo es keine Zeit und keine Trennung gibt. Zuhause im Moment, im ewigen Jetzt.

 

(c) Fabienne Hofmann

 

Diese Geschichte ist heute vor, während und nach dem wunderschönen Sonnenaufgang in meiner neuen Zauberwohnung entstanden.

Gerne lese ich deine Gedanken und Gefühle in den Kommentaren dazu.

 

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